Ein Jahr seit dem letzten Spiel

Heute ist es genau ein Jahr her, dass der SK Sturm das letzte Mal unter regulären Bedingungen vor Publikum Fußball spielte. Aus diesem Anlass wollen wir hier Auszüge eines Texts veröffentlichen, der ungekürzt in der kommenden Schwarzmalerei erscheinen wird und die Ereignisse des letzten Frühjahrs aus Fanperspektive Revue passieren lässt. Viel Spaß beim Lesen!

Die Kurve und Corona, Part I: Lockdown im Frühjahr.

Sonntag, 08. März 2020. Der letzte Spieltag des Grunddurchgangs der österreichischen Bundesliga, Sturm tritt auswärts gegen die zu diesem Zeitpunkt zweitplatzierten Salzburger an. Die Zahl der Mitgereisten ist überschaubar, um viel geht es ja nicht. Die bisherige Saison war durchwachsen, aber Sturm ist fix im oberen Play-Off. An einen Sieg in Wals-Siezenheim mag an diesem Tag keiner so recht glauben, erwartungsgemäß gelingt er letztendlich auch nicht. Die Heimfahrt verläuft bei den meisten unaufgeregt, man ist in Gedanken schon bei der Partie gegen Hartberg am nächsten Wochenende und hofft, dass Sturm in der Meisterrunde ein Neustart gelingt.

Die Medien berichten derweil über ein neuartiges Virus aus China, das in den letzten Wochen vermehrt in Europa und in den letzten Tagen auch in Österreich Fuß gefasst hat. In Italien soll es sich bereits rasant ausgebreitet haben. Schön langsam beginnt man zu realisieren, dass es sich dabei doch um eine konkrete Bedrohung handelt, aber so richtig betroffen fühlt man sich davon nicht. Was soll schon groß sein. Ist ja nur eine Grippe mit Husten. Am Morgen darauf stellt man fest, dass die Fallzahlen auch in Österreich übers Wochenende massiv gestiegen sind. That’s how the trouble began.

Freitag, 13. März 2020. An die Partie gegen Hartberg denkt keiner mehr, der Beginn der Meisterrunde ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Bundesregierung kündigt ein Verbot des Betretens öffentlicher Orte ab dem kommenden Montag an, es sei denn, man geht einkaufen, arbeiten oder ähnliches. Man nimmt es hin, immerhin sind die Fallzahlen im Laufe der Woche massiv angestiegen. Bilder und Nachrichten von überfüllten Krankenhäusern und Sargtransporten in Bergamo gehen um die Welt und sorgen für Schaudern. Die Supermärkte werden leergekauft, das Klopapier geht zuneige. Die Bars und Restaurants schließen ebenso wie nicht „systemrelevante“ Geschäfte. Fünf Tage ist Salzburg away her, und kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Zugleich kursieren Bilder von italienischen Ultras, die die Einsatzkräfte und Gesundheitsbehörden unterstützen. Man beschließt, auch etwas zu machen, und wenn es vorerst nur symbolisch ist. „Vom Supermarkt bis zum Krankenhaus, was ihr gerade leistet, verdient Applaus. Danke“ ist der Spruch auf den man sich einigen kann, den man nach italienischem Vorbild auf Spruchbändern in der Stadt platzieren wird, um zu signalisieren, dass die Kurve hinter den Menschen steht, die das Werk Tag für Tag am Laufen halten. Randbemerkung: Dass die Schwarzmalerei nicht am ursprünglich geplanten Termin Ende März erscheinen wird, ist schon jedem bewusst – wie lange es sich dann aber letztendlich hinziehen sollte, hätte auch der größte Pessimist nicht zu ahnen gewagt.

Sonntag, 15. März 2020. Der letzte Tag vor dem Lockdown, frühlingshafte Temperaturen. Zwei Spruchbänder werden aufgehängt, eines direkt vor dem LKH, das andere auf einer Fußgängerbrücke über einer Hauptverkehrsstraße in St. Peter. Eine Geste, die offenbar genau zur richtigen Zeit kommt, die genau in Worte fasst, was Abertausende fühlen. Wobei wohl niemand mit der Resonanz gerechnet hätte, die die Spruchbänder letztendlich erzielen. Alleine über den Kollektiv-Account auf Facebook erreichen die Fotos unfassbare 350.000 Menschen, sie schaffen es in internationale Nachrichtensendungen, IKEA Deutschland hängt vor seinen geschlossenen Filialen Transparente mit dem exakt selben Wortlaut auf, das Grazer Stadtmuseum fragt an, ob es die Spruchbänder archivieren darf.

Sonntag, 29. März: Die vergangenen Wochen sind im Ausnahmezustand verlaufen. Die Straßen sind leergefegt, und doch ist ein Klima von Solidarität und Zusammenhalt zu spüren. Hilfsaktionen entstehen, Einkaufsgemeinschaften für Risikogruppen werden gebildet, Balkonkonzerte gespielt. Es wird aus Fenstern applaudiert. Auf Fußballebene treten alte Rivalitäten in den Hintergrund, man beteiligt sich an einer Innsbrucker Hilfsaktion für ein Krankenhaus in Bergamo. Nebenher wird auch noch der Ballesterer gerettet. Innerhalb der Fangruppen entstehen Initiativen, um ein Gruppenleben auch während des Lockdowns so weit wie möglich am Laufen zu halten. […] Der physische Kontakt fehlt, trotzdem bleibt die Gewissheit, dass gerade schwierige Zeiten eine Gruppe zusammenschweißen können. […]

Freitag, 01. Mai: Über den April hinweg hat man sich mit Lage arrangiert, so gut es eben möglich war. […] Das herrliche Wetter macht Treffen im Freien möglich, der Augarten und die neueröffnete Augartenbucht ziehen insbesondere an den Wochenenden immer wieder Gruppen von Sturm-Fans an. Auch am 111. Geburtstag des SK Sturm wird der Augarten zum Hotspot: Nachdem bereits im Laufe des Tages der Murradweg von radelnden schwarz-weißen Kleingruppen auf Fritz Longins Spuren frequentiert wurde, treffen im Laufe des Nachmittags immer mehr Schwoaze am Gründungsort ein, woraus sich schließlich ein spontanes „Picknick“ rund um die Bucht entwickelt. Es tut gut, sich wieder zu treffen, eine gewisse Vorsicht und Unsicherheit ist aber bei vielen zu spüren. Auch wenn die Fallzahlen stark rückläufig sind und die Ansteckungsgefahr im Freien – wie man später erfahren sollte – sehr gering ist, sitzen die Einschränkungen der letzten Wochen noch tief in den Knochen. […]

Nach und nach kehrt Normalität ein, die Gastgärten öffnen gegen Mitte des Monats wieder und die Bundesliga kündigt an, den Spielbetrieb mit Anfang Juni wieder aufzunehmen – allerdings vor leeren Rängen. Eine Entscheidung, die bei einigen für Verstimmung sorgt und lebhafte Debatten in den Fanszenen auslöst. Auch das Kollektiv hat sich bereits Ende April mit den anderen Fanszenen Österreichs via Aussendung an die Öffentlichkeit gewandt, auf die Absurdität der Diskussionen rund um Geisterspiele hingewiesen und ein generelles Umdenken im modernen Fußball angeregt – offensichtlich ohne weiteren Effekt. Während Gerüchte über gröbere finanzielle Probleme einzelner Bundesligisten kursieren, von denen Sturm glücklicherweise nicht betroffen ist, ruft man als Kollektiv auf, den Verein zu unterstützen und auf die Rückerstattung der Abo-Kosten zu verzichten. Mit der Wiederaufnahme der Liga endet schließlich diese erste Corona-Phase.

Den ungekürzten Text und die Teile II & III der Serie „Die Kurve und Corona“ gibt’s in der neuen Schwarzmalerei. Erhältlich voraussichtlich ab nächster Woche über kollektiv1909.at.